Außenansicht: Geführt und verführt
Das Publikum fragt nicht, ob Sportler dopen oder nicht - nur der Staat ist in der Lage, Stars vor sich selbst zu schützen
Tübingen, 25. September 2006 (Digel)- In einer Sportsendung des Hessischen Rundfunks wurden die Zuschauer vor kurzem über eine Ted-Umfrage gebeten, ihre Meinung zu einer Freigabe des Dopings zu bekunden. In der ersten Runde sprachen sich 50 Prozent der Zuschauer für eine Freigabe der Doping-Manipulation aus, nach einer 20-minütigen Studiodiskussion wuchs die Zahl der Befürworter auf 62 Prozent. Gewiss ist dieses Ergebnis nicht repräsentativ. Dennoch besitzen diese Zahlen eine alarmierende Aussagekraft.
Für immer mehr Zuschauer des Sports hat das Prinzip des Fairplays als leitendes Wertesystem des Hochleistungssports an Bedeutung verloren. Immer mehr Zuschauer erfreuen sich offensichtlich am Spektakel des Sports, und ihre Freude soll möglichst ungetrübt sein. Und dies scheint eher dann der Fall zu sein, wenn endlich die unendliche Diskussion über Doping beendet wird und man wieder den spektakulären Leistungen der Athletinnen und Athleten seine volle Aufmerksamkeit schenken kann.
Die hohe Zahl der Befürworter einer Dopingfreigabe kann niemanden wirklich überraschen. Die Empörung der Öffentlichkeit über aufgedeckten Betrug im Sport und entdeckte Betrüger des Sports ist stets nur vordergründig und äußerst kurzfristig. Kommen die Stars nach ihrem Betrug jeweils zurück in die Arena, so werden sie erneut als Helden gefeiert, ganz gleich, auf welcher Grundlage ihre sportlichen Leistungen erbracht werden. Beim ersten Tour-de-France-Skandal im Jahr 1998 hielt die Empörung lediglich wenige Wochen an. Die Zuschauer wendeten sich von der Sportart nicht ab, eher schien das Gegenteil der Fall zu sein. Beim diesjährigen Skandal wiederholte sich derselbe Sachverhalt. Im Fall der Sprinterin Grit Breuer war es in den neunziger Jahren so, dass sie nach ihrer zweijährigen Dopingsperre von den Zuschauern begeistert gefeiert wurde. Die italienischen Fußballbetrüger, die noch wenige Wochen vor der Fußball-Weltmeisterschaft in einer inszenierten öffentlichen Empörung als eine Art Mafia-Gang wahrgenommen wurden, wiederum sind wenige Wochen später als Weltmeister die gefeierten Helden der italienischen Gesellschaft.
Es ist kein neuer Befund, dass in Zeiten der Massenmedien die öffentliche Moral oft höchst widersprüchlich ist. Öffentlichkeit ist geführte und verführte Öffentlichkeit zugleich, sie wird gebildet und verbildet, wird aufgeklärt und hinters Licht geführt. Und ohne Zweifel sind es die Massenmedien, an allererster Stelle das Fernsehen, die dies auch noch begünstigen und verstärken. Wir können zwar nur spekulieren, wie wohl die Zuschauer vor 50 Jahren geantwortet hätten, wenn ihnen die Frage nach der Freigabe des Dopings gestellt worden wäre. Es kann jedoch unterstellt werden, dass damals die Idee des Fairplay sehr viel tiefer im Wertesystem von Sportlern und Zuschauern verankert war als heute. Heute hingegen muss man feststellen, angesichts der ständig wachsenden Verfehlungen im Hochleistungssport, im Breiten- und Gesundheitssport, im Fitnesssport, angesichts veränderter Einstellungen zum Gebrauch von Medikamenten und angesichts veränderter Lebensstile: Das Unrechtsbewusstsein in Bezug auf den Doping-Betrug erodiert. Wenn man mit US-Athleten über die Gefahren von Nahrungsergänzungsmitteln und Anabolika diskutiert, stößt man bei ihnen auf Unverständnis. Und auch in Deutschland scheint das Bewusstsein über die Bedeutung von Regeln zu schwinden, dem Sport scheint sein eigener Sinn abhanden zu kommen.
Der Sport hat sich ganz offensichtlich seine eigene Masse erzeugt. Doch Masse ist immer eben auch verführte und verführbare Masse, und sie liefert gewiss keine Richtschnur für verantwortliches politisches Handeln. Will der Sport ein schützenswertes und förderungswürdiges Kulturgut sein, will er über pädagogische, soziale und gesundheitsfördernde Qualitäten verfügen, so hat er sich vor seiner eigenen verführten Masse zu schützen. Er benötigt Schutz aus sich selbst heraus. Er benötigt aber auch Hilfe von außen, wobei gerade jene gesellschaftlichen Institutionen gefordert sind, die mit dazu beigetragen haben, den Sport zu jenem Massenphänomen zu entwickeln, das er heute ist. Politik, Wirtschaft und Massenmedien haben sich der Idee des Sports und deren ethischer Grundlagen zu versichern - und sich selbst auf diese zu verpflichten, soll der Sport auch künftig ein wünschenswerter Inhalt unserer Alltagskultur sein.
Betrachtet man den immer massiveren Doping-Betrug, so muss man erkennen: Über Reichweite und Struktur dieser Verbrechen kann lediglich spekuliert werden. Es liegt deshalb auf der Hand, dass der Beitrag des Sports ganz offensichtlich nicht ausreicht, um sie angemessen zu bekämpfen. Der Sport ist auf die Unterstützung des Staates angewiesen, und das heißt vor allem: auf staatliche Strafverfolgung. Notwendig ist, dass auch die Verantwortlichen des Sports begreifen, dass es sich bei Doping nicht um ein
Kavaliersdelikt handelt, dass alle Verantwortlichen wirklich bestraft gehören. In erster Linie muss der Sport vor Kriminellen geschützt werden, die als Dealer, Manager, Trainer, Ärzte, Pharmakologen und Funktionäre den Doping-Betrug des Athleten beziehungsweise der Athletin möglich machen. Der Sport muss aber auch vor kriminellen Sportlern geschützt werden, die ihre sauberen Konkurrenten betrügen, wirtschaftlich benachteiligen und die ethisch-moralische Grundlage des Kulturguts Sport gefährden. Wünschenswert wäre dabei, dass auch der Athlet und die Athletin bei einem Schuldnachweis mit staatlichen Strafen zu rechnen haben. Sie sind ja die zentralen Figuren bei diesen Verbrechen.
In Deutschland ist es üblich, Athleten, insbesondere in der Zeit, in der sie erfolgreich sind, zu verhätscheln. Es ist jedoch nicht nachvollziehbar, wenn dopende Athleten milder behandelt werden als jene, die mit ihnen gemeinsam die Verantwortung und damit auch die Schuld an Doping tragen. Wer den Athleten eine Amnestie zusagt, aber Strafen für Ärzte, Funktionäre und Trainer fordert (wie einst bei der Aufarbeitung der DDR-Dopingvergehen), der verkennt jene Strukturen, die den modernen Hochleistungssport prägen. Vom mündigen Athleten sollte deshalb nicht nur bei der Verleihung der Verdienstkreuze durch den Bundespräsidenten die Rede sein. Wenn Athleten als hinreichend kompetent gelten, um hoch dotierte Verträge mit Sponsoren abschließen zu können, wenn sie als Privatunternehmer des Sports auftreten, so sollten sie auch für ihr eigenes Handeln haften.
von Helmut Digel
Helmut Digel, von 1993 bis 2001 Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes(DLV), ist Vizepräsident des Leichtathletikweltverbandes IAAF. Professor Dr. Helmut Digel
mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
Anmerkung der Redaktion
Herzlichen Dank für diesen Artikel!
Trotzdem möchten wir zwei Dinge anmerken:
- So vehement der Kampf gegen Doping im innerdeutschen Sport geführt wird, so vehement muss nun auch der Druck auf Weltsportverbände mit dem Ziel qualitativ gleich guter und unabhängiger Kontrollen auf der ganzen Welt erhöht werden. Unsere Athleten/Innen benötigen diese Chancengleichheit dringend, um dopingfrei konkurrenzfähig zu bleiben.
- Die Beurteilung unserer zum Hochleistungstraining bereiten Talente muss vom DOSB und DLV so geändert werden, dass die derzeit vorhandene, vielleicht sogar immer im größeren oder kleineren Maße bestehend bleibende Ungleichheit mit berücksichtigt wird.
Redaktion la-coaching-academy.de